Der »Game Jam Hanse« als Begegnungsort

Im Nachgang zu unserem »Game Jam Hanse« im März 2021 berichtet Nico Nolden über die Möglichkeiten, Geschichte in Games darzustellen.

22. November 2021 · 12:47 Uhr

Von Dr. Nico Nolden

Orte der Begegnung – Interaktive Beziehungen eines Museums zu Besucher:innen

Längst schon verstehen sich historische Museen nicht mehr als reine Ausstellungsorte für bestaunenswerte Artefakte, an die sie erklärende Tabellen, Abbildungen und Texttafeln heranpinnen. In den vergangenen Jahrzehnten wuchsen sie zu interaktiven Orten der Begegnung. Dort treffen die Besucher:innen auf stets aktualisierte Erkenntnisse, wie sich der Blick auf die Geschichte weiterentwickelt – und die können durchaus auch Erwartungen verstören. Zum Beispiel konfrontieren diese wissenschaftlichen Ausstellungen erinnerungskulturell hartnäckige Allgemeinplätze oder bringen vermeintlich sicher Geglaubtes aus dem Schulunterricht ins Wanken. Mit Methoden aber, mit denen sich Inhalte aktiv aneignen lassen, animieren Museen zunehmend Besucher:innen, eigenen historischen Vorstellungen entgegen zu treten. Bei einem zeitgemäßen Museumsbesuch stehen so mehr die Menschen im Mittelpunkt, nicht allein die Objekte.

Besucher:innen sollen anhand der Ausstellung ihre Geschichtsbilder hinterfragen und tauschen, so sie denn in Gruppen kommen, diese Geschichtsbilder miteinander aus. Aus diesem Blickwinkel sind Museen interaktive Beziehungsräume. Dadurch teilen sie viele Eigenschaften mit digitalen Spielen. Viele dieser zumeist kommerzielle Unterhaltungsprodukte inszenieren historische Szenarien als räumliche, atmosphärische Erfahrungen. Darin handeln Spielende selbst, verändern dadurch die Umgebung und komponieren sich einen individuellen historischen Eindruck. Die Spiele fördern die aktive Aneignung von Spielwelt und Thema, indem sie Spielende darin bestärken, selbst wirksam zu sein und die Spielerfahrung nach eigenen Interessen zu lenken.

Lange Zeit mit Argwohn beäugt, erkennen geschichtswissenschaftliche Analysen an digitalen Spielen in den letzten Jahren immer mehr Möglichkeiten für Anwendungen. Es wachsen Angebote von Einrichtungen, die Eigenschaften des Mediums didaktisch und historisch gezielt einzusetzen. Als Bildungsstätten entdecken auch Museen interaktive, spielerische Ansätze, die ihr bisheriges Angebot ergänzen. Die Pandemie verlieh diesen digitalen Strategien zusätzlichen Schub. Um diese Möglichkeiten digitaler Spiele für die Anwendung zu erkunden, schuf das Europäische Hansemuseum Lübeck (EHM) mit einem GameJam vom 26. bis 28.3.2021 einen innovativen Begegnungsraum. In der Online-Veranstaltung brachte das Museum im »Game Jam Hanse – Mehr als Koggen und Kaufleute« unterschiedliche Personenkreise zusammen: Teilnehmende kamen aus der Programmierung, dem Game Design, der Museumsgestaltung und der Geschichtswissenschaft. Gemeinsam verbindet sie ein schöpferisches Interesse an digitalen Spielen, aus dem heraus sie funktionsfähige Prototypen entwickelten.

Mit einem Blick speziell für die spielerische Form setzten die Teilnehmenden das breite spätmittelalterliche Themenfeld um. Die entstandenen Spielideen unterstreichen den Erfolg der Initiative. Dieser Artikel beleuchtet die Beteiligten und die Konzepte, blickt auf die Organisation zurück und wertet die Durchführung aus. Damit richtet er sich an Mitarbeitende und Leitungen von Museen und deren Verbänden sowie in historisch-politischen Bildungsinstitutionen. Zudem regt er selbständige Dienstleister:innen im Bereich Geschichte und Museumsdidaktik an, den historischen GameJam als Konzept mit ihren Partner:innen fortzuentwickeln. Nicht zuletzt birgt der Artikel für Entwickler:innen die Erkenntnis, dass mit geeigneten Partner:innen und einem konstruktiven Umfeld auch thematisch enger gefasste GameJams zu historischen Leitfragen gewinnbringend verlaufen.

»Die wollen doch nur spielen« – Geschichtsbilder in Begegnungsräumen digitaler Spiele

Ähnlich wie Museen Orte eröffnen, an denen Menschen sich gegenseitig und damit auch den unterschiedlichsten Geschichtsbildern begegnen, gilt das auch für digitale Spiele. Häufig schwebt jenen, die nicht selbst spielen, das Klischee vor, Spielende würden vor ihren Geräten vereinsamen. Wie so oft, trügt die Außenansicht. Immer häufiger sind Spiele sozial angelegt: Menschen begegnen sich, kämpfen mit und gegeneinander, lösen aber auch gemeinsam komplexe Aufgaben. Sie organisieren sich dafür arbeitsteilig, ihren Fähigkeiten entsprechend. Sie konstruieren Objekte, Gebäude oder ganze Reiche, planen, wirtschaften und unternehmen vieles mehr. Wer nicht selbst spielt, schaut anderen via Social Media zu. Diese Communities verfolgen kommentierte Spielverläufe in sogenannten Let’s Plays. Darüber diskutieren sie mal mehr, mal weniger sachlich. In der Intensität abhängig von Spielform und -inhalten, tauschen sie sich über historische Inhalte und die räumlich-atmosphärischen Erfahrungen aus.

Dass dieser Austausch nicht nur sporadisch, sondern kontinuierlich über verschiedenste historische und politische Inhalte vorkommt, ließ sich klar am Online-Rollenspiel The Secret World belegen (seit 2017 Secret World Legends). Aus einer Perspektive der Gegenwart heraus verknüpft dessen Spielwelt viele Regionen der Welt über diverse Epochen und lässt zahlreiche Mythen und Legenden buchstäblich zum Leben erwachen. Fortwährend über eine ganze Dekade hinweg, diskutierten Spielende die Bedeutung von historischen Artefakten und Architektur, den Geschichtswissenschaften gegenüber Verschwörungsmythen, und begriffen die vielstimmige Erzählweise als glaubwürdiges Abbild einer realen historischen Deutungsvielfalt. Offenbar ist Spielen und Spielenden erinnerungskulturell erheblich mehr zuzutrauen, als gemeinhin angenommen wird.

Die Vielfalt an soziale Spielformen ermöglicht zudem die unterschiedlichsten Zugriffe auf historische Szenarien. Im Online-Aufbauspiel Life is Feudal etwa errichten Spielende eine spätmittelalterliche Dorfsiedlung. Kollektiv und arbeitsteilig stemmen sie sich gegen Widrigkeiten von Umwelt und Fauna. Das Wikinger-Szenario des ähnlich angelegten Valheim lässt Spielende in einer nordischen Landschaft zusätzlich auf mythische Kreaturen treffen. Wie bei The Secret World widersprechen solche Kreaturen nicht notwendig der historischen Erinnerungskultur, denn Mythen und Legenden sind eng mit kursierenden Geschichtsbildern verbunden.

Dass Spielende zusammenarbeiten, beschränkt sich nicht nur auf das Spielen selbst. Zusammen und mit den Studios wirken sie direkt am Prozess der Entwicklung mit. Kleinere Produktionen wie Curious Expedition, das überseeische Expeditionen in der Kolonialzeit thematisiert, beziehen weit vor der finalen Veröffentlichung ein, was Spieler:innen vorschlagen, und gewinnen an Sichtbarkeit. Für Anno 1800 rief Ubisoft die Community auf, inhaltlich und spielmechanisch das Wirtschaftsaufbau-Spiel über das Zeitalter des imperialen Seehandels mit auszurichten. Das Studio beteiligte die Spielenden in der »Anno Union« als historische Analogie zur Arbeiterbewegung quasi gewerkschaftlich am Produktionsprozess und damit bemerkenswert passend für ein Spiel über die Industrialisierung.

Darüber hinaus erschaffen Spielende mithilfe von Spiele-Software eigene Interpretationen von Geschichte. »Sandbox«-Spiele wie Minecraft stellen ihnen einen Werkzeugkasten aus Spielmechaniken bereit. Darin formen sie die Umgebung, konstruieren Gebäude, gewinnen Rohstoffe, entwickeln Werkzeuge und organisieren sich gemeinschaftlich in ausgeklügelten sozialen Strukturen. Komplexere Spiele liefern fast schon eine Entwicklungssoftware mit. Mit dem RPG-Maker lassen sich Rollenspiele erschaffen. Dass diese Kreativität auch auf Konsolen funktionieren kann, zeigt beeindruckend die spielerische Design-Umgebung Dreams. So viel Freiheit lässt sich natürlich auch missbrauchen. Beispielsweise produzieren rechtsextreme Gemeinschaften bei RUST Devotionalien und organisieren sich zu rassistischen Mobs. Bei allen Risiken gestalterischer Freiheit bekräftigen die vielen positiven Beispiele aber, wie mächtig und vielfältig soziale Gemeinschaften sind, die sich innerhalb von Spielumgebungen selbst organisieren und Spielmechaniken fortentwickeln.

Weit mehr als nur die Präsentation – Interaktionen mit Geschichte im Museum

So liegt eine zentrale Botschaft darin auch für Bildungsträger und Museen, gezielter die spezifischen Eigenschaften digitaler Spiele zu erkunden. Viel zu oft basieren Projekte auf einem Bildungskonzept, dass sich auf feste Erzählungen versteift. Meist fehlt der Mut, für einen Teil der Deutungen auf die Mitwirkung durch Spielende zu vertrauen. Damit aber reduzieren solche Spiele ihre Kernkompetenzen auf die Eigenschaften eines Textes mit etwas buntem Beiwerk. Die entscheidende Stärke digitaler Spiele liegt in Modellen und Prozessen. Sie transportieren historische Interpretationen durch dynamische Rechensysteme und die spielmechanische Anlage. Curious Expedition erzeugt gerade dadurch, dass die Expeditionsreisen nicht erzählerisch fixierte sind, mithilfe der variablen Spielverläufe ein plausibles Modell, wie ungewiss Verlauf und Ausgang der Expeditionsreisen im 19. Jahrhunderts war. Die zentrale und interessante Herausforderung also für historische Szenarien ist, geeignete dynamische Systeme zu ersinnen, um historische Prozesse adäquat mit den Eigenschaften einer Spielmechanik zu transportieren.

Das ist letztlich auch eine wichtige Aufgabe für ein Museum, das präsentierte Inhalte nicht entlang von linearen Interpretationslinien arrangiert, sondern den Besuch von Menschen als interaktiven und variablen Durchlauf begreift. Digitale Spiele sind dafür natürliche Verbündete. Wegen ihres partizipativen, interaktiven Charakters wirken auch Entwickler:innen digitaler Spiele mit den Spieler:innen zusammen, um Geschichtsbilder entstehen zu lassen, je nachdem wie sie Technik, Spielmechanik und Wissensangebot anlegen. Über die historische Interpretation eines Themas bestimmen also auch die Entwickler:innen nie ganz allein. Die Spielenden tragen erheblich durch ihre Ansichten, das, worauf sie achten und wie sie handeln, dazu bei. Mit entsprechenden Methoden von Interaktion und Kommunikation treten Besucher:innen in einem zeitgemäßen Museum in eine Beziehung mit denjenigen ein, die die Ausstellung konzipieren und weiter entwickeln. Dadurch erhöht sich nicht nur der Wert, ein Museum wieder zu besuchen, ein solches Arrangement vermittelt auch den fluiden Charakter historischen Wissens in Abhängigkeit von den gestellten Fragen und neuen Erkenntnissen viel besser.

Eben hierin liegt die Macht einer interaktiven Begegnung auch für Museen. Ein spielerischer Umgang mit Besucher:innen wurde ja durchaus schon erprobt. So bieten viele Museen geschauspielerte Inszenierungen in Form sogenannter Reenactments oder Living History an. Vermehrt bieten sie Escape Rooms wie »Die Phänomenologie des Geistes« im Stuttgarter Hegel-Haus an. Solche physischen Räume stellen Spielende vor Aufgaben, um sich gemeinsam aus einer Situation mithilfe von Wissen über Artefakte freizurätseln. Doch auch in digitaler Form gab es zum Teil bemerkenswert aufwändige Ansätze. Das Westfälischen Landesmuseum Münster lädt seit 2014 bis zu zehn Besucher:innen gleichzeitig an einen Konferenztisch mit eingelassenen Monitoren ein. Gemeinsam mit anderen Spielenden, ersatzweise auch Computergegnern, verhandeln sie den Westfälischen Frieden, versuchen für eine von mehreren Parteien aber möglichst viel gegen die anderen für sich herauszuholen.

Bildeten solch durchdachte digitale Projekte bis vor Kurzem eher seltene Ausnahmen, gerät in jüngerer Zeit Neues in Bewegung. 2021 lief das Projekt »Borderzone« der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten an, das in Zusammenarbeit mit dem Cologne Game Lab eine Anwendung für Virtuelle Realität erschafft. Besucher:innen im Schloßpark Babelsberg soll sie die historischen Spuren der ehemaligen DDR-Grenzbefestigung interaktiv erkundbar machen. Jüngst startete das Deutsche Historische Museum (DHM) Berlin im Zuge der Initiative Museum 4.0 das Projekt »Vergangene Zukunft«. Ausdrücklich soll es Spielräume historisch-politischen Handelns mithilfe digitaler Spiele zu Wendepunkten der deutschen Geschichte ergründen.

Der digitale spielerische Begegnungsraum – Der Veranstaltungskontext des Game Jam

Länger schon, durch die Pandemie aber beschleunigt, siedelt sich das Europäische Hansemuseum (EHM) in einer Speerspitze historischer Museen an, die kreativ digitale Strategien erproben. In dem umfassenderen Projekt »Abenteuer Hanse« verschaffen ihm seit 2021 Sondermittel die notwendigen Freiräume, um nach interaktiven, digitalen und spielerischen Lösungen zu suchen. Die Initiative »dive in. Programm für digitale Interaktionen« der Kulturstiftung der Bundesrepublik Deutschland hilft, die vorhandene Dauerausstellung zu überarbeiten, Inhalte sinnvoll durch digitale Methoden zu bereichern und durch einen Mehrwert nachhaltig über die Pandemie hinaus zu betreiben.

Verantwortlich für den Bereich Bildung und Vermittlung des Hansemuseums, lud deshalb Timo Knoth zu dem mehrtägigen »GameJam Hanse« vom 26. bis 28. März 2021. Programmatisch gab sein Untertitel »Mehr als Koggen und Kaufleute« zu erkennen, dass das Thema mehr bietet als Schiffsgerät und Seehandel. Im Grundsatz erzeugt ein GameJam einen Rahmen in dem Menschen eine Spielidee entwerfen, designen und dann auch programmieren. Auf nur wenige Tage konzentriert, entsteht so eine kreative Anspannung. Sie diszipliniert, eine Idee nicht mit Beiwerk zu überfrachten, sondern möglichst pointiert auf ihren innovativen Kern einzudampfen. Meist geben daher Jams keine konkreten Themen vor, formulieren Ziele eher durch mehrdeutige Begriffe oder Redewendungen. Die Entwickler:innen realisieren schlicht, was sie schon immer ausprobieren wollten. Für solche Ideen finden sich schlagkräftige kleine Teams von bis zu drei oder vier Personen zusammen.

Bei der Online-Veranstaltung des Hansemuseums wagten sich somit alle Beteiligten auf ungewohntes Terrain. Der Jam brachte aus der Programmierung, dem Game Design, der Museumsgestaltung und der Geschichtswissenschaft sehr unterschiedliche Menschen zusammen. Jens Bahr unterstützte das Museum dabei organisatorisch für den Verein if(game)SH e.V.. Die Initiative zur Förderung des Games-Standorts Schleswis-Holstein für digitale Spiele richtet regelmäßig eigene Jams mit wechselnden Partnern aus. Dieses Mal brachte er seine Mitglieder ein, um sich beim „GameJam Hanse“ zu engagieren. Inhaltlich entwickelte das Museum das Konzept zusammen mit Nico Nolden. Der Historiker für Public History an der Leibniz Universität Hannover forscht zur Geschichte von und in digitalen Spielen, arbeitete aber an der Universität Hamburg auch zum Spätmittelalter und hansischen Themen. Als Mitgründer des Arbeitskreises für Geschichtswissenschaft und digitale Spiele (AKGWDS) motivierte er dessen Mitglieder zur Teilnahme: fachkundige Historiker:innen, die selbst spielen sowie mit und an Spielen arbeiten.

Ungewohnt für einen Jam, setzte er mit der Hanse einen engeren thematischen Fokus. Zudem schwang stets die Intention mit, dass die entstehenden Konzepte im Museum für Besucher:innen nützlich sein sollten. Daher umrahmte das Museum das Programm mit einer virtuellen Führung durch Timo Knoth und zwei fachlichen Abendvorträgen. Die drei Angebote überblickten zusammen die Anlage des Museums, die historischen Themenbereiche und ihre Inszenierung in digitalen Spielen. Im Laufe der drei Arbeitstage halfen zudem Aurelia Brandenburg und Lukas Boch aus dem AKGWDS mit ihren Schwerpunkten, Fragen zum Mittelalter und weiteren Perspektiven zu digitalen und analogen Spielprinzipien in Bezug auf Geschichte zu klären.

Als Leiterin der Forschungsstelle für die Geschichte der Hanse und des Ostseeraums (FGHO) begrüßte Angela Huang die Teilnehmenden am Vorabend des Jam. Ihr Vortrag durchschritt die historischen Verläufe von organisierten Kaufmannschaften bis zum vermeintlichen Niedergang der Hanse. Dabei betonte sie, wo textliche und andere statische Beschreibungen aus geschichtswissenschaftlicher Sicht an Grenzen stoßen. Möglicherweise ließen sich Prozesse der Verhandlung unter Kaufleuten, Reisen oder Kommunikationsfragen aussagekräftiger als dynamische Systeme verdeutlichen. In digitalen Spielprinzipien lägen dort Synergien für die Geschichtswissenschaft. Nico Nolden griff diese Ankerpunkte für seinen Überblick zu digitalen Spielen und der Hanse auf. Ausgehend von der digitalen Spielegeschichte fasste er zusammen, wie deren technische Entwicklung den inhaltlichen Umgang veränderte. Er erläuterte an Mitschnitten einige aktuelle Spielprinzipien. So führte er zu einem ganzen Katalog von Lücken durch die Beispiele anderer digitaler Spiele, die für eine innovativere historische Inszenierung im Kontext der Hanse hilfreiche Ansätze böten.

Das Ruder in der Hand der Nutzer:innen – interaktive Spielprozesse mit historischer Aussage

Bis zur abschließenden Präsentation der Ergebnisse unterbrach nur wenig den kreativen Sog der Arbeitsprozesse. In wohlverdienten Pausen stellten sich die Teilnehmenden gegenseitig ihre Zwischenstände vor. Wie erhofft, ergänzten sich die Personenkreise sehr produktiv. Anfängliche Sorgen, der GameJam wäre mit dem historischen Rahmen überfrachtet, erwiesen die Prototypen als unbegründet. Die Teilnehmenden schufen drei spielbare Projekte und einen schriftlichen Konzeptentwurf. Deren bemerkenswerte Kernideen befassten sich mit der mündlichen Überlieferung, der Orientierung zur See, der politischen Aushandlung und der Vermengung von erinnerungskulturellen Mythen mit historischen Fakten. Die Prototypen lassen sich über die Plattfom itch.io oder über den Game Jam Hanse herunterladen. Als Konzeptstudien bedürfen sie jedoch ein wenig der Erläuterung.

Vordergründig scheint »Hanse Shipping« vom klassischen Thema der hansischen Seefahrt zu handeln. Mit einem frühen Schiffstyp des Ostseeraums, detailverliebt nach Materialien des Museums konstruiert, reisen Spielende entlang der Ostseeküste gen Nowgorod. Die üblichen Erwartungen zerbricht das Spiel, indem die Spielenden nicht etwa mit Karte und Kompass navigieren können. Erstere waren nicht üblich an Bord, letztere waren schlicht nicht erfunden. Wie ihre historischen Vorbilder navigieren die Spielenden anhand von Notizen in einem Logbuch und Beschreibungen der nachgebildeten Ostseeküste. Eine Überflugperspektive erleichtert zumindest ihnen den Überblick etwas. Neben menschengemachten Landmarken und landschaftlichen Formationen müssen sie Verpflegung und Proviant im Auge behalten. Eintönige Leerlaufphasen der Seereisen behielt das Team bewusst bei. Diese tatenlosen Phasen lenken die Aufmerksamkeit auf das Gefühl für die See. Geplant waren Elemente zur See wie die Sichtung von Schiffen oder vorbeiziehende Tiere. Denkbar wären zudem Wetterphänomene. Über die Dauer des GameJam ließen sich diese Ideen jedoch nicht mehr umsetzen.

Die Informationen, die Seeleute in ihre Logbücher oder Wegekarten eintrugen, sammelten sie neben eigenen Erfahrungen aus der mündlichen Überlieferung durch andere. Dieser Kommunikation zwischen zwei Personen nahm sich »Anno Domini 1163 – Die lange Reise nach Nowgorod« an (Dominik Jakubik und Sascha Reinhold). Dabei kooperieren zwei Spielende. Ein Seemann erklärt dem anderen Schritt für Schritt den Weg in die russische Ferne. Dafür entwarf das Team zahlreiche Spielkarten, die Gebäude, Landschaftsgebilde oder Erfahrungen skizzieren. Zunächst erklärt ein:e Spieler:in in der Rolle des einen Seemanns diese Karten Stück für Stück. Dann bricht der zweite Seefahrer zur Reise auf. Zu jeder beschriebenen Station zeigt ihm das Spiel sehr ähnliche Karten an. Wurde die Route gut beschrieben, natürlich aber vom zweiten Reisenden auch gut verstanden, lässt sich der richtige Weg aus den Symbolkarten wählen. Spannend gelöst ist der Wiederspielwert, denn Spielende müssen zu Beginn ihrem Schiff einen Namen verleihen, aus dem das Spiel den zufälligen Kartensatz generiert. Wer hinterher reist, verwendet für dieselbe Route ebenso diesen Schiffsnamen.

Auf die politische Kommunikation unter den hansischen Kaufleuten konzentriert sich der schriftliche Konzeptentwurf »Hansetag« (Andreas Hanemann). Auf ihnen fällten Gesandte mal für nur wenige, mal für eine große Zahl von Städten gemeinsam Entscheidungen, die als Rezesse für die Städte bindend waren. Die Verhandlungssimulation lässt sich nicht direkt spielen, weil sie für größere Gruppen mithilfe eines digitalen Video-Konferenztools vorgesehen ist. Dabei basiert das dreistündige Konzept auf vorhandenen Angeboten des Hansemuseums wie einem Planspiel für Schüler:innen zum Hansetag 1518 und einem Angebot zum Thema Nowgorod für erwachsene Gruppen. Zu Beginn setzen die Teilnehmenden aus einem Katalog politisch zu lösende Fragen auf die Agenda, die sie als Gesandtschaften diskutieren. Entscheidungen auf diesen Hansetagen mussten einstimmig getroffen werden. Das gemeinsame Ziel der Spielenden ist daher, dass alle Delegationen möglichst viele Punkte der Agenda in Einigkeit beschließen. Dennoch versuchen die einzelnen Spielenden ihren persönlichen Schnitt dabei zu machen. Nicht nur die Folgen der Entscheidungen für die Städte beziffert das Spiel dabei, auch für die Reise und den Aufenthalt müssen die Gruppen haushalten. So wählen sie zum Beispiel den nötigen Prunk, um ihren Forderungen den nötigen Nachdruck zu verschaffen.

Einen anderen historischen Ansatz wählte das vierte, wiederum digital spielbare Projekt »C_rta M_ri_a« (Markus Bassermann, Arne Berner, Laura Schumacher, Anne Seum). Es nimmt sich der Vorstellungswelt in spätmittelalterlichen Karten an. Die »Carta Marina« wurde 1539 aus mehreren nordischen Vorbildern und Berichten über Seereisen geschaffen und diente eindeutig der Orientierung. Gleichzeitig aber dokumentiert sie viele historische und mythische Vorstellungen durch Illustrationen. Das Team löste Bildelemente aus der Karte, animierte und vertonte sie. Sie erzählen von Konflikten mit Fürsten, vom Seekrieg der hansischen Zeit und wie sagenhafte Erzählungen Wissenslücken fantasievoll füllten. Die Umgebung der Bildelemente wird in einem Kurztext beschrieben, und Spielende müssen ihren Platz auf der Karte finden. So befassen sie sich intensiv mit ihrer Bildsprache. Haben sie die Bildstücke richtig zugeordnet, belohnen sie die vertonten Animationen mit brüllenden Meerungeheuern, schepperndem Geschirr lappländischer Schlitten oder donnernden Kämpfen zur See. Neben dem Text, der den Spielenden die Position auf der Karte erläutert, erhalten sie zudem einen Absatz zu den dargestellten historischen Hintergründen. Spielende werden so motiviert, mit der Karte auch diese Hintergründe zu erkunden. Über diese motivierenden und inhaltlichen Kniffe hinaus, ist vor allem die Skalierbarkeit bemerkenswert: Das Prinzip lässt sich für unterschiedliche Altersgruppen anwenden und bei all den Bildelementen ließen sich viele weitere historische Inhalte der Zeit erklären.

Ohne Kompass zur See – Die Ergebnisse als innovativer Anfang

Die vier Prototypen zeigen interaktive, dynamische Ansätze, die das Hansemuseum vertieft, um sie für die Umgestaltung der Dauerausstellung anzupassen. Der Nachweis gelang, dass sich bestimmte historische Vorgänge durch das aktive Handeln von Spielenden treffender verdeutlichen lassen, als es übliche Darstellungsformen im Museum vermögen. Sinnvoll lassen sich die genannten Beispiele wohl nur mit den spezifischen Eigenschaften digitaler Spiele umsetzen.

Wie sich Seeleute entlang von Küsten orientierten, lässt das erste Beispiel Spielende nachvollziehen. Um rechtzeitige Kurskorrekturen herbeizuführen, müssen Spielende auch die Gleichförmigkeit langatmiger Reisen aushalten und lassen die Umgebung zur See wirken. Das Kommunikationsspiel zweitens lässt kooperativ die Schwierigkeiten überwinden, wie man Reisewege nach Hörensagen und persönlichen Erfahrungen nachverfolgt. Das dritte Konzept inszeniert mit einem Online-Konferenz-Tool Vorbereitung, Anreise und Entscheidungen, um Gruppen von Gesandtschaften bei einem Hansetag zu simulieren. Das animierte Suchspiel schließlich entschlüsselt die Bildsprache der spätmittelalterlichen Karte durch den Spielprozess selbst und vermittelt, wie man sich darauf zwischen historischen und mythischen Hintergründen orientiert.

Dem Museum verschaffen diese Prototypen innovative Ansätze, um bestimmte historische Vorgänge Besucher:innen nahezubringen. So, wie die Konzepte jetzt umgesetzt sind, lassen sie sich sicherlich nicht direkt im Museumsalltag einsetzen. Ihre Prinzipien jedoch ließen sich an Orten des Museums andocken. Die spielerischen Lektionen zu Küstennavigation und mündlicher Überlieferung würden den Raum zur Newa mit der rekonstruierten Kollerup Kogge bereichern. Ein Aushandlungsspiel ließe sich im Saal des Hansetags 1518 mit großen Gruppen inszenieren. Wartezeiten im Eingangsbereich des Museums, ob auf Verabredungen oder auf Einlass, könnte das animierte Kartensuchspiel so unterhaltsam wie informativ verkürzen und auf den Besuch im Museum einstimmen.

Das Format des GameJam bewies deshalb sehr deutlich seine Eignung, Teilnehmende interdisziplinär pointierte Kernideen entwickeln und diese durch funktionierende Prototypen veranschaulichen zu lassen. Der „GameJam Hanse“ setzte so einen Rahmen für Kommunikationsräume mit der Geschichte und unter den Teilnehmenden, weshalb er vielleicht auch besonders geeignet war, interaktive digitale Kommunikationsräume in den Spielen zu erdenken. Angesichts der vielen noch offenen Themen und möglichen historischen Vorgänge, die weitere GameJams beleuchten könnten, ließe sich der Jam zukünftig zu einem regelmäßigen Format im EHM entwickeln. Deutlich stellte der Jam heraus, dass das Spektrum anwendbarer historischer Prinzipien in spielerischer Form weiter zu erkunden ist. Mittelfristig ergäbe sich hier eine Menge Stoff, um eine Sonderausstellung zu mittelalterlichen Szenarien in digitalen und wohl auch analogen Spielen voranzutreiben. Angesichts der erfolgreichen Ergebnisse des rein deutschsprachigen GameJams ließe sich auch die Veranstaltungsform selbst zu einem internationalen Begegnungsraum fortentwickeln. So könnten weitere Blickwinkel durch Teilnehmende aus den Nachbarländern mit in die Überlegungen einfließen und weitere Ebenen der Kommunikation im Hansemuseum schaffen.

*

Zur Person

Dr. Nico Nolden ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Public History an der Leibniz Universität Hannover. Er forscht und lehrt zu digitalen Spielen, ihren historischen Inszenierungen und der Erinnerungskultur. Dabei interessieren ihn auch spielerische interaktive Konzepte in Augmented und Virtual Reality. Selbstständig ist er als Berater mit Workshops und Vorträgen für Museen und Gedenkstätten, an Hochschulen, in der schulischen sowie historisch-politische Erwachsenenbildung und für Games Studios tätig. www.niconolden.de

Das Projekt »Abenteuer Hanse« wird entwickelt im Rahmen von »dive in. Programm für digitale Interaktionen« der Kulturstiftung des Bundes, gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) im Programm NEUSTART KULTUR.